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Vorbemerkung
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Ein Fastenprojekt von Helmut Loder


absetzen von # 20. [montag]

Ein ganzes Jahr hatte der Grazer Uhrturm etwas Besonderes. Einen leibhaftigen Schatten. Keinen flachen mit Bodenhaftung. Einen monumentalen, nach hinten versetzten Schatten. Er war weithin sichtbar. Der Uhrturmschatten. Eine maßstabgetreue Nachbildung. Ein ganz spezieller Schatten. Zweitausgabe. Jetzt kommt er weg. Macht sich selbständig. Setzt sich ab als Schatten. Übersiedelt an den Stadtrand von Graz.

Absetzen. To remove from … Der Schatten ist wesentlich und anhänglich. Er gehört dazu. Zur Erscheinung der Dinge. Zu jedem von uns. Er zeigt sehr viel an. Manche würden ihren Schatten liebend gerne loswerden. Ohne Schatten durchs Leben ziehen. Ohne diesen lästigen Begleiter. Fastenzeit – Schattenzeit. Auf unserem Leben liegen oft Schatten. Und so manches Leben spielt sich im Schatten ab.

Michael Ende hat ein interessantes Kindermärchen verfasst: Ophelias Schattentheater. Das kleine Fräulein Ophelia entdeckt in ihrem Leben plötzlich riesige Schatten - ihre eigenen und die vieler anderer. Nach dem ersten Schreck schaut sie sie an, spricht mit ihnen und lädt sie ein, bei ihr zu bleiben. Sie bringt ihnen bei, was sie ein Leben lang am Theater als Souffleuse gelernt hat. So kommen die Schatten unter ihrer Regie zum Leben - sie treten heraus aus ihrem Schattendasein und helfen ihr schließlich, in einer für sie ausweglosen Situation zum Über- Leben.

Was an diesem Text fasziniert, ist die einfache Wahrheit, die dahinter verborgen liegt. Wir alle leben. Aber nur einen Teil der Wirklichkeit, einen Teil unserer Möglichkeiten. Der andere Teil führt ein Schattendasein. Gerade in der Fastenzeit werden wir uns dessen schmerzlich bewusst. Wir sind mit unseren Schatten konfrontiert. Mit den Schatten unserer Schwächen und Fehler, unserer kleinen und größeren Sünden. Mit den Schatten der Vergangenheit. Sie sind da.

Auch wenn uns der Glaube Erlösung, Vergebung, Neubeginn und Hoffnung schenkt, wie viel ist da noch unfertig, noch nicht zum Leben gekommen, ins Schattendasein abgedrängt? Fasten könnte bedeuten, sich den Schatten zu stellen, nicht davon zu laufen, sie „anzusprechen“ und einzuladen, bei uns zu bleiben und mit uns zu leben. Sie werden manchmal wachsen und groß sein, dann wiederum klein und unscheinbar oder überhaupt nicht zu sehen.

Statt absetzen und weglöschen: annehmen und handeln. Gott spricht im täglichen Alltag zu uns. Er reicht uns seine Hand. Er hat uns einen Schatten geschenkt. Als Begleiter. In seinem Licht der Liebe werfen wir einen langen Schatten.

 


entfernt # 21. [dienstag]

Ein selten schöner Tag. Es duftet nach Frühling. Wolkenlos. In der Sonne ist es angenehm warm. Ein Auferstehungstag. Nach dem intensiven Winter. Mitten in der Fastenzeit. Viele sind gekommen. Stehen stumm da. Regungslos hören sie die Worte des Priesters. Dunkel gekleidet. Singen mit leiser Stimme und feuchten Augen mit.

Es heißt Abschied nehmen. Von einem lieben Menschen. Vorausgegangen ist er uns. So heißt es. Wir können es nicht recht glauben. Viel zu früh, sagen alle. In jungen Jahren. Mit starken Schmerzen. Unheilbar. Rettungslos. Chancenlos. Er hat sich nicht aufgegeben. Er hat sein Leid angenommen.

Der Kalvarienberg in Graz. Ein Felsen mit Kreuzigungsgruppe. Mitten in der Stadt. Weithin sichtbar. Wir stehen im Schatten des Berges. Ein goldener Christus hängt am Kreuz. Kein zerschundener, bluttriefender Christus. Wie im aktuellen Jesus-Schocker.

Wir stehen vor dem Felsen. Ganz oben glänzt der goldene Korpus. Hier unten denken wir an den, der seinen Leib aufgegeben hat. Der in die Vollendung taucht. Sich von uns entfernt hat.

Lieder erzählen von unserer Hoffnung. Melodien tragen die Worte. Die Worte erinnern an Franz. Den lebendigen begeisterten Musiker. Wir denken an ihn. Er bleibt unvergesslich. Er lebt in unserem Herzen.

Fastenzeit, Hoffnungszeit. Removed. Sich entfernt haben. Vom Leben, das keines mehr war. Sagen viele. In der Zeitung las ich am gleichen Tag die Überschrift: Ihr liebt das Leben! Wir lieben den Tod. So einfach ist das. Oder so schwer. So unmöglich! Den Tod lieben? Wer kann das behaupten?

Wir Christen glauben an einen Gott, der das Leben liebt. Er geht dabei seltsame Wege. Und manchmal verstehen wir überhaupt nicht, wie er das meint, mit dem Leben. Wir hoffen, dass Franz lebt, dass wir leben, wenn wir sterben. Und diese Hoffnung wollen wir leben. Heute, morgen, alle Tage unseres Lebens…

 


Remove ambiguity– Unklarheiten ausräumen # 22. [mittwoch]

„Alles beginnt mit der Sehnsucht.“ Sagt Nelly Sachs. Das gilt auch für Exerzitien.

Fastenzeit, Kurszeit. Tage der Besinnung. Geistliche Übungen. In vielen Klöstern und Bildungshäusern werden das ganze Jahr über Tage oder Wochen der Einkehr angeboten. In der Fastenzeit ein fixer Programmpunkt: Exerzitien. Verdichtete Spiritualität. Komprimiert. Schweigen und Gebet. Sich zurückziehen und schweigen. Remove ambiguity: Unklarheiten ausräumen.

Einen anderen Weg gehen. Vielleicht ist es der „Aus-Weg“? Um dem Trott und der Abstumpfung zu widerstehen? Sich auf das eigene Leben konzentrieren. In nie gekanntem Ausmaß. Achtsam werden. Für die Gegenwart Gottes in meinem Leben.

Der Anfang ist schwer. Zu vieles will ausgesprochen werden. Laut gesagt sein. Aber langsam gewinnt die Stille an Kraft. Und Demut gehört dazu. Offenheit. Gelassenheit.

Exerzitien sind Übungszeiten. Geistliche Übungszeiten. Sich einüben. Sich über manches klar werden. Remove ambiguity. Die Unklarheiten ausräumen. Und der Sehnsucht nach Gott Raum geben. All zu oft verlieren wir ihn im Alltag aus den Augen.

Exerzitien, spirituelle Schweigezeiten. Ein Weg der Übung. Der Erfahrung und der Verwandlung. Wenn das Schweigen Kreise zieht. Exerzitien. Die Mitte suchen. Mein Leben neu ausrichten. Exerzitien. Damit meine Seele gesund bleibt …

 


Remove – the old marks # 23. [donnerstag]

Mitten auf dem Weg. Ein Holzstück. 2 m lang. Ein einziges Wort ist darauf zu lesen. GOTT. Liegt mitten im Weg. GOTT liegt auf meinem Weg. Ein Kunstwerk? Eine Installation? Ein Stolperstein in Gestalt eines Holzstücks.

Gott legt sich quer. Mitten im Tor zum Bildungshaus. Alle müssen daran vorbei. Einer stolpert fast. Schaut verwundert zurück. Stolpert über GOTT.

Remove the old marks. Entfernt die alten Markierungen. So hieße es lange Zeit. Weg mit diesem Gott. Aus dem WEG mit GOTT. Er steht uns im Weg. Wenn wir uns selbst verwirklichen wollen, wenn wir Macht ausüben, wenn wir … Ja, wenn wir …

Das Holzstück haben wir mitgenommen. Zum Seminar. Den „Gott, der sich querlegt“. Der zum Stolperstein wird. Plötzlich wird es spannend. GOTT legt sich quer. Zu unseren Erwartungen, unseren kurzsichtigen Wünschen. Wir sind angefragt. Herausgefordert. Was bedeutet mir Gott? Im Alltag, zwischen Aufräumen und Arbeitsstelle? In der Partnerschaft? Im Freundeskreis?

Gott liegt auf dem Weg. Einfach so. In den Dreck geschleudert. Das Wort GOTT liegt im Weg. Dieses beladenste aller Menschenworte. Sagt Martin Buber in einem seiner Texte. Gott liegt im Weg. Und erteilt uns einen Auftrag: Wir dürfen es nicht preisgeben. Wir können es befleckt und zerfetzt, so wie es ist, vom Boden aufheben und aufrichten, über einer Stunde großer Sorge.

Don´t remove the old marks. Fasten heißt dann GOTT aufheben, vom Boden aufheben in einer Stunde großer Sorge.

Die alten Markierungen und Hinweise liegen herum, am Boden, legen sich quer. Zur Geschäftigkeit unserer Zeit. Manche springen leichtfüßig darüber, andere stolpern und nicht wenige stürzen. Wir sollten es aufheben und aufrichten. Mitten unter uns. Ein Querbalken auf dem Weg. Mit GOTT drauf.

 


Remove – unterbrechen # 24. [freitag]

Fasten …? Eine ernste Sache. Sagen die Menschen. Wenn es um ihr Gewicht geht. Dabei ist Fasten einfach mehr. Aber wen kümmert das schon? „Wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht!“ Originalton: Jesus von Nazareth. Fasten und Humor? Witze übers Abnehmen gibt es genug. Karikaturen ebenfalls. Aber befreiendes Lachen über religiöse Themen?

Fasten könnte auch sein, lachen zu lernen. Über sich selbst. Über falsche Bilder im Kopf und in der Seele. Zum Beispiel über Gott. Von ihm haben wir mehr als genug. Nämlich falsche Vorstellungen. Wir haben sie gepflegt, weitererzählt, ausgeschmückt und vielen Generationen eingebläut. Sichtbar gemacht.

Der Schriftsteller Ernst Eggimann schreibt: „Du bist … nicht.“ Und meint Gott. Du bist nicht der bärtige Vatervater. Der archetypische Gartenarchitekt. Der Erfinder des Apfels und der Schlange. „Du bist nicht …“ schreibt er. Und listet alle billigen und gedankenlosen Klischees auf, die es gibt und herumgeistern. Am Ende aber schreibt er: „Du bist …“ Es bleibt aber offen, wer dieser Gott ist. Wir, die Leser sind aufgefordert, auszusprechen, wer Gott ist. Das Ganze nennt er Psalm 19.

Fasten heißt auch remove wie unterbrechen. Den Kreislauf der Blindheit für die Größe Gottes, die Linie der missverständlichen Bilder, der falschen Vorstellungen. Ein Schweizer Cartoonist hat solche Bilder gezeichnet. Liebevoll übertrieben zeigt er den Himmelspolizisten, den aufgeschreckten alten Mann, den hilflosen Greis vor dem Computer. Man sieht sie und lächelt. Weil sie dumm sind. Klein, billig und süßlich. Einfach nur lieb. Die falschen Bilder im Kopf. Die Karikaturen im Heft.

Eigentlich müsste man sie ständig oder immer wieder anschauen. Und darüber lachen. Das befreit und unterbricht den Alltag. So kitschig und naiv. So schrecklich, so schlimm. Aber noch immer weit verbreitet. Deshalb remove – unterbrechen, zum Nachfragen zwingen. Nachsinnen, wie wir über Gott denken. Welche Bilder in uns sind. Du bist nicht… so! Du bist. Gott sei Dank!

 


Remove – (ab)lösen # 25. [samstag]

Unter den heurigen Fastenbüchern heißt eines „Einfach pilgern“. Auszeit für Körper und Seele. Von Wolfgang Sotill. Klingt gut. Und stimmt. Immer mehr Menschen pilgern. Fast schon ein Trend. Modeerscheinung? Nicht ganz. Für einige mag es stimmen. Aber viele haben diese Art der Bewegung auf Gott hin für sich entdeckt. Neu.

Tatsache ist, Menschen brechen aus und auf, lassen das Bekannte für eine Zeit lang hinter sich. Suchen nach neuen Wegen. Im wahrsten Sinn des Wortes. Genießen die Natur in vollen Zügen. Mit Muskelschmerzen und verschwitztem Leiberl sind sie unterwegs. Auf den Spuren und Routen tausender Vorgänger. Spüren ihren Körper. Spüren ihrer Sehnsucht nach Gott nach.

Remove – löse dich! Geh! Geh langsam! Geh öfter allein! Geh lange! Geh einfach! Los. Pilgern, wallfahren, losziehen. Religiöse Erfahrung auf dem Weg. Eine uralte bekannte Methode. Billig und wirksam. Dazu gehört auch Singen und Beten. In den Wallfahrtskirchen und unterwegs. Eine Herausforderung für viele. Gesund und plötzlich attraktiv. Sich lösen von der Gleichgültigkeit, von der Sattheit und Müdigkeit.

Pilgern heißt Grenzen ausreizen. Sich selbst überwinden. Dabei neu auf sich stoßen. Ein 42jähriger erkannte: „Danach war ich ein anderer Mensch. Die größte Entdeckung war ich selbst, die Liebe, die Kraft und damit Gott!“

Ob auf dem Weg nach Santiago de Compostela oder auf heimischen Pfaden: Pilgern ist wieder gefragt. Leben in der Gegenwart Gottes. Konzentriert und erfüllt vom Geist der Begegnung. Begleitet vom stillen Gebet, versunken im Schweigen. Gestärkt für die lebenslange Suche nach Gott.

Sagen wir nicht: Was geht das mich an? Sagen wir: Ich geh es jetzt auch an. Sicher nicht morgen, aber vielleicht schon demnächst. Nach Mariazell. Oder Pöllau. Oder Vorau. Denn wohin würden wir kommen, wenn niemand ginge, um zu sehen, wohin man käme, wenn man endlich ginge … (frei nach Kurt Marti)

 


Remove – to a safe place # 26. [sonntag]

Fastensonntag. Das Gleichnis vom barmherzigen Vater. Hin und wieder ist es noch immer die Geschichte vom verlorenen Sohn. Gut bekannt, längst eingegangen in den Literaturkanon, in die Sammlung der griffigen Short stories. Fast ein wenig abgedroschen. Hoher Wiedererkennungswert. Kennt fast jeder. Biblisch und doch universal arche-typisch.

Eine Reifungsgeschichte. Vater und Sohn, genauer: ein Vater mit zwei Söhnen. Der jüngere zieht aus. Geht weg. Holt sich sein Erbe. Tschüss! Aber er scheitert in der Fremde. Draußen. Die Heimat ruft: „Dann brach er auf und ging zu seinem Vater“. Er kehrt um. Geht nach Hause.

Ein vertrautes Evangelium. Oft weiter gedichtet, bewusst ausgeschmückt. Ergänzt mit freien Versatzstücken. Zum Beispiel mit einem nächtlichen Gespräch zwischen Heimkehrer und dem daheim gebliebenen älteren Sohn. Ergebnis: Auch der ältere bricht – unter Umständen – vielleicht auf. Wie gesagt: Dichtung. Auf hohem Niveau.

Mir fällt dazu ein Lied ein. Cat Stevens schrieb vor vielen Jahren einen Titel namens „Father and Son“. Ein Riesenhit. Romantisch, eine gefühlvolle Ballade. Zukunftshoffnung und Zukunftsängste, Wünsche, Sorgen und die Zusicherung der Liebe werden thematisiert. Es wird alles gut. Zwischen Father and son. Hab Geduld, hab Vertrauen.

Aber noch ist der Sohn nicht unterwegs. Nach Hause. Noch ist er Knecht. Einsam und verzweifelt. Trotzdem: Er wird bald kommen. Und ihn in Sicherheit bringen. Remove to a safe place. Aufarbeiten das bittere Ende der Träume. Seine Umkehr – eine berührende Heimkehr. In die offenen Arme des Vaters. Gott läuft ihm entgegen. Der Ausreißer begreift: Er hat gewartet auf mich. Er ist ein entgegenkommender Gott!

Fastenzeit ist keine moralische Wellnesskur. Wir sind eingeladen, Gott in die Arme zu laufen. Sich bei ihm in Sicherheit zu bringen. Der warmherzige Vater, der die Vergebung und Versöhnung in sein Schöpfungsprogramm unwiderruflich eingepflanzt hat, schmeißt ein Fest. Für den, der gesündigt hat. Er nimmt uns an. Er schenkt sich selber, unverschuldet und bedingungslos. Seine Liebe übersteigt alles Verstehen. „Und sie feierten ein fröhliches Fest!“

 

2004

Montag, 15.3.2004
Donnerstag, 16.3.2004
Mittwoch, 17.3.2004
Donnerstag, 18.3.2004
Freitag, 19.3.2004
Samstag, 20.3.2004
Sonntag, 21.3.2004 (4. Fastensonntag)