10. Dezember
Es glitzert und blitzt. Eine Fülle, die das Licht der Sonne zu übertreffen scheint. In Gold oder Silber, auch in Rot oder Grün. Engelshaar, eine beliebte Dekoration für den Weihnachtsbaum. Wir Menschen lieben das Glitzernde. Behübschen die Welt. Vergessen zu oft, dass es auch
das Dunkle, das Elend gibt. Aber manchmal ist Rettung ...
Vom leichten Joch Jesu
+ Aus dem Evangelium nach Matthäus: In jener Zeit sprach Jesus: Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht.
Namenstag: Brun(o), Angelina
Der alte Mann, schlohweiße Haare, sitzt in einem Frisiersalon. Mitten in Paris. Gleich erlebt er eine Weihnachtsgeschichte der besonderen Art. Eigentlich will der Mann nur schön sein für die Welt. Die Welt bewundert und liebt den alten Mann. Es ist Alexander von Humboldt (1769-1859). Er sitzt im Frisiersalon und wird gepflegt. Da kommt eine junge Frau herein. Sie ist schön. Das erkennt der alte Herr. Sie sieht ärmlich aus. Sie hat lange schwarze Haare. Deswegen ist sie im Frisiersalon. Sie will aber ihre Haare nicht pflegen lassen, sondern verkaufen. Sie braucht das Geld. Wenigstens ein paar Geschenke will sie davon kaufen. Der Frisör freut sich. Das wird ein Schnäppchen. Die Frau will sechzig Franc, vielleicht zehn Mark. Der Frisör bietet ihr drei Mark. Aber da ist noch der alte Herr, Alexander von Humboldt. Weit gereist, viel geliebt mit seinen fast neunzig Jahren. Das ganze Wissen der Welt ist in seinem Kopf. Fünf Bände „Kosmos“ hat er
geschrieben. Er war in Lateinamerika, in Russland, in der Wüste. Hat Berge bestiegen und Flüsse befahren, Karten gezeichnet und Blumen gemalt. Manche Gefahr hat er überstanden. Ihm kann die Welt nichts mehr bieten. Er kennt die Welt. Der Frisör ist ihm egal. Die Frau tut ihm Leid. Er bittet um eine Schere. Will er die Haare der Frau schneiden und kaufen? Nein, natürlich nicht. Was soll er damit? Der Frisör ist verdutzt und gibt ihm die Schere. Die Frau ist ängstlich. Was geschieht jetzt? Der alte Herr steht langsam aus dem Stuhl auf, geht zu der jungen Frau. Sie zittert. Ganz sanft fasst er die Frau am Kopf und sucht sich ein Haar. Ein langes, schwarzes Haar. Das schneidet er ab. Steckt es in seine Tasche. Dann drückt er der Frau einen Schein in die Hand. Die verschwindet schnell. Auf der Straße, das sieht der Alte noch durch die Scheibe, macht die Frau ihre Hand auf. Schaut sich das Geld an. Es sind fünfzig Mark. Für ein Haar. Sie erschrickt.
Der alte Herr schmunzelt. Das ganze Wissen der Welt ist in seinem Kopf. Aber Wissen allein genügt nicht, das weiß der Alte auch. Noch wichtiger ist Güte, Wärme, Herz. Sonst ist die Welt eiskalt. Das ewige Rechnen macht uns krank. Was ist das ganze Wissen der Welt gegen den einen Moment Herzenswärme? Nichts. Wer gibt, der bekommt auch, denkt Humboldt. Was will ich mehr? Und er gibt, wird geliebt dafür. Die Frau ist glücklich. Der Frisör ist beschämt. Humboldt ist zufrieden. Alles ist ersetzbar. Nur die Liebe nicht. Liebe vergisst man nicht. Nie.
Michael Becker
Helmut Loder
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