LoderNet.com / David Loder
Wir sind: Helmut Loder / Maria Loder / David Loder / Rebecca Loder / Raphael Loder
Helmut Loder - Rezensionen und Buchempfehlungen - Der Waschzettel

Corinna Soria
Aus der Finsternis zum Licht

Ein erschütternd faszinierendes Buch, ... ein „Debüt aus dem Stoff, aus dem große Literatur gemacht wird: Wahnsinn und Methode“. So schrieb die Neue Zürcher Zeitung anlässlich des Erscheinens des Berichtes vom „Leben zwischen den Seiten“.
In ihrem vermutlich autobiografischen Erstlingswerk – ausgezeichnet mit dem Rauriser Literaturpreis 2001 – beschreibt die gebürtige Österreicherin Corinna Soria die Lebens-, Leidens- und Befreiungsgeschichte des Kindes Zoe und ihrer Mutter, die aneinander gekettet voneinander nicht loskommen, vom religiösen Wahn der Mutter, und vom Befreiungskampf gegen eine einengende, alle Lebensfreude verschlingende Erziehung in einem Klosterinternat.

Die 161 Seiten starke „Erzählung" ist in drei Abschnitte gegliedert und in einer ungemein dichten, sehr bildhaften, fast atemlosen Sprache verfasst. Die Kindheitsmuster und Erzählmotive sind hinlänglich bekannt, die Ähnlichkeiten mit anderen heimischen Kindheiten der 70er Jahre fast punktgenau und präzise festgeschrieben. „Die österreichische Literatur ist voll von Schreckensgeschichten über furchtbare Kindheiten in dumpfen Herrgottswinkeln, von Thomas Bernhard bis Franz Innerhofer.“(Sigrid Löffler, in Literaturen 12/2000)

Die unbeirrbare Heiterkeit der Hoffnung

Das Überraschende an diesem „Frontbericht aus dem Wahnrevier“ (S. Löffler) ist die schrecklich-komische Heiterkeit der Hoffnung der Erzählerin, dass es einen Sinn macht, sich aus dem Sumpf der Umstände zu befreien.
Teil eins begleitet die Beziehung zwischen der im Stich gelassenen alleinerziehenden verwirrten Mutter und dem unehelichen Kind aus der Perspektive der Tochter bis zur ersten Katastrophe, der Einlieferung der Mutter in die Psychiatrie und der Übergabe des Kindes an Pflegeeltern. Die Mutter leidet unter Verfolgungswahn und bildet sich ein, man wolle sie vergasen, vergiften. Lebensmittel, erst frisch gekauft, landen umgehend wieder im Abfallkübel. Und immer wieder hält sie Zwiesprache mit einem Rosenkranz-Etui, aus dem sie Trost und Rat empfängt.

„Sie spricht ins Leere und spricht nicht zu mir, sie kämpft gegen Gestalten, die, sagt sie, durch Wände ziehen und nach uns verlangen, ich sehe nichts, sie bereitet am Boden ein Lager, unter dem Fenster, dass die Strahlen nicht unsere Körper zersetzen, sie zieht mich zu sich auf den Boden. Nein, Mutter, der Mond tötet uns nicht, der Mond ist von leuchtender Schönheit, Mutter, ich habe es gelernt, erst gestern, von der Sonne beschienen macht er, dass nicht nur das Schwarz der Nacht uns umhüllt, ich will ihn sehen. Dunkel ist es am Morgen, dunkel den ganzen Tag, das Zimmer bleibt verfinstert, die Sonne, die Wolken, das Blau, nein, sagt sie, man beobachtet uns von allen Seiten, man will uns Böses. Ich wende mich ab und steige auf den Rappen. Die Sonne brennt am Horizont, die Prärie gleist, Staub wirbelt unter den Hufen und nachts werde ich auf den Dächern der Navajo sitzen und die Friedenspfeife rauchen mit der glänzenden Kugel dort droben im Dunkelblau. Von oben Strahlen, von unten, von allen Seiten her will man sie zersetzen, sie befiehlt mir, mich auf sie zu legen, ich bin ihr Schutzschild, liege in ihrer Hand, auf Gedeih und Verderb, doch stehle ich mich heimlich davon an den Mississippi, sie merkt es nicht, während ich auf ihr liege und sie schläft ein, wieder über eine Nacht gerettet, Mutter, kommst du aus dem Dunkel, quäle dich nicht, schlaf, meine Mutter, schlaf ein.“

„Überlebensmittel“ Literatur

Schon sehr jung entdeckt Zoe (übersetzt „das Leben“!) die Rückzugswelt Buch, dabei wird ihr vor allem die Großelternliteratur zum rettenden Strohhalm, ergänzt durch Karl May und eine Prise Walt Disney. Wichtiger aber noch ist ihr die Lektüre von Friedrich Rückert. Ein Gedicht endet mit der Zeile „Ich leb in mir und meinem Himmel“, und das wird mehr und mehr zur Überlebensstrategie von Zoe, die auf sich selbst gestellt ist und auch dem christlichen Himmel immer weniger abgewinnen kann, angesichts der strengen und engen Verständnislosigkeit des omnipräsenten Provinz-Katholizismus der frühen sechziger und siebziger Jahre.

„Christusbräute“ und Gottgefällige

Wie überhaupt die religiösen Seiten sehr ironisch und drastisch beschrieben werden und zum Beispiel die Klosterschule – geführt von gnadenlosen „Christusbräuten“ – recht abschreckend vorgestellt wird. Aber auch die Verwandtschaft wird entlarvend „heilig“ gezeichnet:

„Die ganze Familie hat sich eingefunden. Bei Kuchen und Wein wird über dein Verhalten und Schicksal (der Mutter) Gericht gehalten, sie sitzen rund um den Küchentisch, die allerheiligste Versammlung von Christusbräuten und Gottgefälligen, eine hebt an, mit gefülltem Munde Kunde zu geben von ihrer Information, eingeholt über ein direktes Sprachrohr der Jungfrau Maria ... dieses reine Geschöpf empfing die Nachricht, du, meine Mutter, seist von vier Dämonen umsessen. Nein, Gott bewahre, nicht besessen, man legt Wert auf den kleinen Unterschied, die Schande der Besessenheit mutet Gott der heiligen Familie nicht zu, und wenn du betest und Opfer bringst, wird sich deiner die himmlische Heerschar erbarmen und die vier um dich sitzenden Bocksfüßigen zermalmen ... Ich finde deinen Blick nicht mehr, ich finde dein Lächeln nicht mehr, bist du wieder fort, ob du den Drachen zertrittst? Vorerst starrst du nur geöffneten Mundes, die Magd zieht mich an sich und hält mir die Ohren zu, ich aber entwinde mich, Kunde muss ich geben, ich höre und wende mich ab, hier wohnt kein Gott.“

"Freiheit, bist du zwischen den Seiten?", fragt sich das Mädchen schon früh, lesend. Das Mädchen, das mit zunehmendem Alter immer mehr zwischen die Seiten und zwischen alle Stühle gerät, hin- und hergerissen zwischen der Wahnwelt ihrer Mutter und der Welt der Normalität und der Normalisierung oder zwischen diesen beiden Seiten in ihr selbst. Aus dieser Spannung nährt sich ein Großteil des Textes dieser Mutter-Tochter-Geschichte.

Vom Scheitern und Neubeginnen

Der zweite Teil schildert die Lebensumstände bei der Familie Rauhbein, die einfachen Verhältnisse: viel Arbeit, viel Kirche, Kummer in der Schule, Außenseitertum. Die Mutter taucht wieder auf, ein neuer Versuch um bemühtes Zusammenleben wird gestartet, ein vergeblicher Versuch, miteinander und mit dem Leben auszukommen, ein neues Scheitern, ein Rückfall.
Der dritte und letzte Teil setzt ein mit der Verweigerung der Pflegefamilie, ihre Pflegetochter abermals aufzunehmen, und beschreibt ihre Zeit in einem Klosterinternat, wieder ein Sommer mit der Mutter, dritter Anlauf, wieder scheiternd, diesmal die Tochter schon in einem Alter, in dem sie sich bei der Internierung als Mittäterin an der Mutter empfindet und dennoch gezwungen ist, so zu handeln, ohne Unterstützung durch ein soziales Netz, ohne Unterstützung durch einen belanglosen und nicht belangbaren Vater, der keine Rolle spielt.

Der Wahnsinn der Mutter, anfänglich ein Abenteuerspielplatz. Nicht weinerlich, nicht sentimental wird die intensive Beziehung zwischen irrer Mutter – „die verwilderte Fremde mit dem bösen Blick“ – und dem heranwachsenden Kind geschildert, diese un- und außerordentliche Beziehung.

Zoe ist manchmal ein zorniges, wütendes, erpresserisches Kind, ein Kind, das seiner Mutter in nichts nachsteht, das aber immer routinierter die Verantwortung und die Mutterrolle für den „Menschen, der meine Mutter ist“ übernimmt. Sie wird zur „Kerkermeisterin“, die sie immer wieder in die „Programmierstation ins Leben“ bringen muss. Petra Nachbaur schreibt: „Wie in Aglaia Veteranijs "Warum das Kind in der Polenta kocht", beschreibt Soria die Sorge eines Kindes, eines kleinen Mädchens um seine Mutter, die bei Veteranij Zirkusartistin ist, bei Soria auf den dünnen und hoch gespannten Seilen des Wahnsinns dahinbalanziert, ohne sich zu kümmern, ohne sich kümmern zu können, wen ihr Fall noch mit in die Tiefe reißen wird.“

Das Dennoch leben

Zoe läuft nicht weg, gibt nicht auf. Kümmert sich um ihre hilflose Mutter. Und liebt sie in ihrer störrischen Widerspenstigkeit und Verrücktheit. Liebe ist für sie nicht nur ein Wort aus den Büchern, Liebe ist Sorge und Beistand. Trotz der erschreckenden Thematik, der nicht reißerischen, aber direkten Benennung von Krankheit und Wahnsinn und bei aller Gesellschaftskritik, die in diesem Text zum Ausdruck kommt, ist der Roman eine ungeheuer beeindruckende Mischung aus ungerührter Selbstbeobachtung und einer rasenden Achterbahnfahrt mit vielen Glücksmomenten und Tiefpunkten und mit beschränkter Hoffnung auf Heilung und Licht.
Die (Kreuz)Weggeschichte aus der Dunkelheit der Verzweiflung in das Licht der Freiheit und des Glücks ist uneingeschränkt empfehlenswert! Mit einer ungemein leisen Hoffnung endet die Erzählung:

„Irgendwann ziehe ich meine Hand, in die vermeintlich ihr Schicksal gehämmert wird, unterm Schmiedehammer hervor, wir gehen getrennte Wege, die treffen sich bisweilen. Dann wird meine Mutter, die Rose, ihres Schicksals müde und müder und lässt die Schemen immer öfter unbeachtet vorüberziehen. Die Sonne treibt die Geister aus.“

Zur Autorin

Corinna Soria ist das Pseudonym einer gelernten Romanistin aus Salzburg, geboren 1962, aufgewachsen in Klagenfurt, in Wien lebend.
Das Buch ist im Wieser Verlag Klagenfurt, 2000, erschienen und wird ab März in einer Taschenbuchausgabe im Suhrkamp-Verlag aufgelegt.

(veröffentlicht in den CPB 1/2002 unter der Rubrik Umgeblättert)

Helmut Loder

« Zurück zur WaschZettel-Übersicht

Copyright © 2003-2006 LoderNet.com. This work is licensed under a Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 License.
Valid XHTML.

disillusiondesign. aesthetics and fine screen design.

« Zurück zur WaschZettel-Übersicht

Feedback
Schreib uns!

Inhaltliche Anregungen, Verbesserungsvorschläge und Lob (aber auch Kritik) schickst du an feedback[at]lodernet.com. Wir freuen uns über Rückmeldungen jedweder Art!