Der Buchumschlag ist unauffällig, fast verschämt bescheiden, ein roter Hintergrund und kleine weiße Schrift. „Gedanken zur Zeit“. Nichts Reißerisches, Aufdringliches in der Aufmachung. So wie ihre Texte eben sind: unangestrengt, klar und unmissverständlich. Engagiert, echt und offen, fast unangenehm ehrlich. Bildhaft und meist im rechten Augenblick ein wenig wortverspielt.
Ich schwärme gerade von den Radiokolumnen der jungen Steirerin Andrea Sailer, deren Auswahl von Gedanken und Rundfunk-Meditationen (verkleidet als wohlgestaltete Radio-Essays) als Texte zum Weiterdenken aufs Nachdrücklichste empfohlen werden wollen!
Das Inhaltsverzeichnis verrät schon vieles, die Tiefe und die Weite, das Heim(at)liche und Fernstehende. Da geht es um die Zeit, um Anfang und Ende, um die geliebte und wohlwollend kritisch gesehene Provinz(stadt Weiz), um das überall auftauchende Faschingsfieber, um die Liebe mitten im Mai und die Sommer- respektive Gartenzeit, aber auch um die Lücke im Geländer, den berührenden Nachruf auf eine verstorbene Nachbarin, um Kitsch und den Funkenflug des Glücks, um sinnliche Kindheitserinnerungen anhand des ersten Bikinis, den grauen Alltag, das Sterben vor dem Tod und die Kostbarkeit des Glaubenkönnens. Und dass der Advent ins Bild genommen wird mit „Ankunft hat viele Gesichter“, wundert schließlich niemanden:
„Nicht zuletzt hat Ankunft auch immer etwas mit dem Menschsein selbst zu tun. Ein Leben lang sind wir unterwegs, begleitet von der Hoffnung, irgendwann auch bei uns selber anzukommen. Es dauert lange, bis man sich selbst wirklich kennt, und vermutlich noch länger, bis man das Unabänderliche an sich selbst zu akzeptieren lernt.“
(S. 126)
Es ist schon seltsam. Es ist kein ausgewiesen religiöses Buch. Man nimmt es zur Hand und liest sich fest, nickt und denkt: das empfinde ich auch so. Nicht anbiedernd, kokettierend, schlicht und einfach eine sympathische Form des Beobachtens und Abwägens, Bedenkens und Erörterns. Mit dem Hörer/Leser schlendert Andrea Sailer über die (Allgemein)Plätze des Alltags hinweg, schaut da und dort genauer unter den Teppich und beschreibt manchmal liebevoll, dann wieder mit scharfen deutlichen Worten geißelnd, was ihr auffällt an uns und diesen Tagen. Und findet zwischendurch ganz nebenbei leise Worte der Hoffnung, der religiösen Besinnung, die selbst bei manch skeptischem Zwischenton noch glaubhaft klingen.
Zwischen den Zeilen und vielen einzelnen Passagen strahlt ein Licht von behutsamer solidarischer, herzlicher Menschenliebe durch, das anrührt und betroffen werden lässt. Ihr Herz schlägt deutlich hörbar für die, denen sonst niemand Aufmerksamkeit schenkt, und wenn es nachgerade wir selber sind. Ihre Texte sind wie ein „sensibler Seismograph“ für die Schwingungen ihrer Umgebung, lassen niemanden kalt und punkten durch die persönliche Empfindsamkeit.
Unter dem Kapitel „Wir sind nur Sternenstaub... Wichtigkeiten, Nichtigkeiten und Werte im Wandel“ des Monats April lesen wir:
„Es geht auf Ostern zu, wir stehen mitten in der Fastenzeit. Wahrscheinlich ist dieser Umstand für einen Großteil der Bevölkerung bedeutungslos. Und das hat nicht unbedingt etwas mit Kirche und Christentum zu tun, auch wenn das Fasten gemeinhin als vorösterlicher Bußakt zur Vorbereitung auf das hohe Fest der Auferstehung gedacht ist. Heute verbindet man den Begriff des Fastens nahezu ausschließlich mit Diät. Und der Wunsch nach einer Gewichtsreduktion hat nur selten religiöse Wurzeln.
Manchmal, mitten im Alltag, zwischen ein paar belanglosen Atemzügen, begreifen wir mitunter, dass unser Leben zunehmend von der Kehrseite des Fastens bestimmt wird: der totalen Übersättigung. Im Dickicht unzähliger Waren- und Sinnangebote, in der Flut endloser Möglichkeiten und zahlloser Lebensentwürfe finden wir uns selbst beizeiten an einem Totpunkt angelangt, der die Mannigfaltigkeit der Chancen in totale Chancenlosigkeit umkehrt. Und dies ist nicht zuletzt eine Frage von Wichtigkeiten und Nichtigkeiten und damit eine Frage im Zerrspiegel sich wandelnder Werte.
Über Werte zu sprechen, ist gefährlich. Es ist ein Tanz auf dünnem Eis ...
Das, was heute zählt, was in den Medien und in der Gesellschaft den Ton angibt, wird dem Menschen selber längst nicht mehr gerecht und weniger noch der Menschlichkeit. Die Werte, die unsere Gegenwart bestimmen, sind oft krasse oder fast krankhafte Auswüchse einer scheinbar gescheiterten Sinnsuche. Es sind bizarre Ideale, die eine gnadenlose Diskriminierung der Mehrheit zur Folge haben. Dadurch stehen viele von uns, ob nun bewußt oder unbewußt, längst schon im sozialen Off.Jugend - das ist einer der unerlässlichsten Werte unserer Zeit. Wer heute nicht jung ist, ist nur mehr marginal vorhanden, gehört zu keiner Zielgruppe mehr, ist nahezu stimmlos. Musik, Mode, TV-Programm, all das ist fast durchwegs auf ein sehr junges Publikum zugeschnitten. Und in einem Unterhaltungslokal fühlt sich bereits ein Über-30-Jähriger nicht selten wie im Ghetto. Hip, chic und trendy ist, wer aussieht, als wäre er der Pubertät noch nicht mal richtig entwachsen. In ist, wer die Hitparade rauf und runter hört. Im Zeitgeist befindet sich, wer von der Zeit noch kaum was mitbekommen hat. Das Leben ist ein rasanter HipHop zwischen Schulmädchenlook und Boygroup. ... Falten kriegen, krank werden, Verluste und Enttäuschungen erleben, die Scherben zerbrochener Träume aufsammeln, die Niederlagen unter den Teppich kehren - das ist es wohl, was letztlich unser Dasein bestimmt, doch gesellschaftlich ist das irrelevant. Jugendkultur, das heißt Spaßkultur, heißt Fetenkult und Discofieber, heißt Tanzen bis zum Umfallen, Feiern bis zum Abwinken, Saufen, bis der Notarzt kommt. Und immer wieder auf der Überholspur leben. Von einem Extrem ins andere, von einem Kick zum nächsten, vom Bungee-Sprung zum Tiefseetauchen. Das ist die Achterbahn der Fun-Generation. Und allemal besser, das Brett vorm Kopf ist ein schneidiges Snowboard als der Querbalken eines Kreuzes, das da andernfalls mit seinem ganzen Gewicht zu tragen wäre.
Gewicht. Das ist grundsätzlich ein wunder Punkt in unserer fetten Welt. Wo der Jugendkult ausgebrochen ist, ist auch der Schönheitswahn nicht weit. Individuelle Schönheit ist dabei nicht erstrebenswert - Perfektion heißt das Ziel. Fragt sich nur, ob es nun Fluch ist oder Segen, dass sich beinahe alles, was dem Ideal nicht entspricht, problemlos mischen lässt. Wir sind mehr und mehr umgeben von platter, perfekter Schönheit; zurechtgeschnitzte Hollywoodgesichter mit waschpulverweißen Zahnreihen, serienmäßigen Stupsnasen und trendig unterfütterten Lippen und Wangen, dazu aufgeblasene Busenbilder auf sämtlichen Illustrierten und jede Menge begradigter Körper in Musik- und Modewelt.
Die heutige Schönheit ist selten echt, und noch seltener gottgegeben. Wo früher noch naiv gemogelt wurde, mit Wimperntusche, Miederslip und Wonderbra, wird jetzt gleich operiert; da weggesaugt, dort aufgepolstert, gespannt, gerafft, geebnet. Es droht eine Zeit, in der man sich vielleicht wahrhaftig schämen muss, wenn man ein Leben lang so aussieht, wie man geboren wurde, die Spuren des Alters zwar mit Melancholie, aber doch, hinnimmt, den Verlust von Jugend und Schönheit irgendwann so beiläufig abhakt wie einen verlegten Regenschirm und einfach der bleibt, der man immer schon war, um bis zum Lebensende vielleicht der zu werden, der man sein möchte: ein echter Mensch, kein Plastikgeschöpf einer künstlichen Welt, eine Summe von Erfahrungen, kein aufgegangener Chirurgenplan, ein Produkt aus Glück und Schmerz, kein Abziehbild der Massenkultur, die in Wahrheit gar nicht die Masse favorisiert, sondern aus Einzelwesen eine Masse erzeugen möchte. ...Genug ist nicht genug, mehr denn je ist das die Devise. Die Gier nach so vielen fragwürdigen Werten hat letztlich das aus uns gemacht, was wir sind: eine Wohlstandsgesellschaft, die am Überfluss krepiert. Nein, wir verhungern nicht wie die schwarzen Schreckgespenster der Dritten Welt, für die wir manchmal ein bisschen spenden. Und doch, das, woran wir langsam zugrunde gehen, ist vielleicht nur eine andere Art von Hunger.
Wer uns das alles vorschreibt, diese genormten Wichtigkeiten, das wissen wir nicht so genau. Es ist bloß ein Gefühl, ein beunruhigender Verdacht, der uns sagt, dass wir dies alles brauchen: Luxusheim und Traumurlaub, Designerkleid und Gourmetmenü, Glamour, Golfsport, Guccis neuen Duft. Wir leisten uns das einfach mal, wenn’s sein muss, auch auf dem Gipfel eines enormen Schuldenberges. Und wenn von dort kein Abstieg mehr möglich scheint, können wir uns ja immer noch erschießen. Und die restliche Familie gleich mit. Besser eine solche, letzte Schlagzeile als Abgang von der geleasten Lebensbühne, als demütig anzuerkennen, dass manche Grenzen einfach existieren.
Grenzen sind Wertfeinde geworden. ...Und Fasten - was heißt das schon? Ostern - wer braucht das noch? Auferstehung - wen könnte das betreffen? Wir sind doch alle längst unsterblich, weil es uns in Wahrheit gar nicht mehr gibt, so wie wir sind. Lebendig und verschieden. - Noch bleibt etwas Zeit bis zur Nestersuche im Gras. Zeit genug auch für eine kleine Suche der anderen Art: Der Suche nach dem, was wirklich wichtig sein könnte. Und nach dem, was von uns übrigbleibt, wenn wir die modernen Werte abstreifen. Das ist dann nicht viel mehr als Sternenstaub, sehr klein und sehr vergänglich. Da ist die Auferstehung dann doch wieder kein gar so schlechtes Ziel.“
(S. 26-31)
Andrea Sailer hält fest, bildet ab und bildet sich ihre Meinung. Kämpft gegen die blinden Flecken der Wahrnehmung, für sorgsame Erinnerung. Den Tod ihrer Nachbarin beginnt sie mit betörend schlichten aber präzisen Sätzen einzuleiten und endet:
"Man ahnt schon, die Nachbarin hat doch auch irgendwie zum eigenen Leben gehört. Ganz am Rand vielleicht nur. Aber oft ist es der Rand von etwas, der einen Halt gibt, Gewohnheit, Geborgenheit, vielleicht Heimat. Ein unsichtbares Geländer, dessen Wichtigkeit man nur bewerkt, wenn da eine Lücke entsteht.“
Dieser Sammlung tiefer Gedanken wünsche ich viele Leser/innen!
Andrea Sailer, geboren 1972 in Weiz, studierte Philosophie und Anglistik in Graz/Wien, veröffentlichte „Am Ende des Tages“ (Leykam 1996), „Saisonschluss“ (Leykam 1998) und gewann den 3.Preis der Akademie Graz im Essaywettbewerb „Gedanken zur Jahrtausendwende“ 1999.
Sie erarbeitete für die steirische Landesausstellung 2001 „Energie“ in Weiz, dem „Spirituellen Weg - 7 Quellen zur Kraft“ eine literarische Rauminstallation in der Emanuelkapelle der Wallfahrtskirche Weizberg, in der sie die Begegnung mit den Geringsten der Welt, den Schwachen der Gesellschaft thematisiert.
(veröffentlicht in den CPB 1/2001 unter der Rubrik Umgeblättert)
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