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Helmut Loder - Rezensionen und Buchempfehlungen - Der Waschzettel

Mariella Mehr
Kind ohne Namen: Daskind

Die Geschichte einer tragischen Kindheit von Mariella Mehr

In letzter Zeit hat ein trauriges Thema mehr als uns angenehm ist, die Schlagzeilen unserer Zeitungen und Zeitschriften beherrscht: Kindesmissbrauch. Die Schweizer Autorin Mariella Mehr hat sich dieser Problema-tik angenommen und ein betroffen machendes, ungemein herausforderndes und erschreckendes Buch dar-über aus der Sicht eines Kindes, eben „Daskind“, geschrieben. „Daskind“ (der Titel ist richtig wiedergege-ben) ist das Zeugnis einer sprachgewaltigen Flut von atmosphärisch exakten Ausschnitten aus der Hölle einer lieblosen Kindheit.

„Hat keinen Namen. Daskind. Wird Daskind genannt. Oder Kleinerbub, obwohl es ein Mädchen ist. Wenn den Frauen im Dorf danach zumute ist, wird es Kleinerbub genannt, oder Kleinerfratz, zärtlich. Auch Frecherfratz, wenn Daskind Bedürfnisse hat, oder Saumädchen, Hürchen, Dreckigerbalg. Hat keinen Namen, Daskind. Darf nicht heißen. Darf niemals heißen, denn dann könnte keine der Frauen im Dorf, der danach zumute ist, Daskind Kleinerbub nennen oder Frecherfratz, zärtlich, gierig. Also, Daskind.
Daskind spricht nicht, hat nie gesprochen. Schweigt düster. Schreit und tobt gelegentlich, anstatt zu sprechen. Hat nur eine Luftsprache, die Dörfler Dörfler nennt oder Frauen, Männer, Näherin, Schwestern, wenn es Nonnen sind, Herrpfarrer. Sigrist. Totengräber, Coiffeur, Polizist. Gemeindepräsident, Abdecker, Pflegevater, Pflegemutter und den Pensionisten im Pflegeelternhaus: Denpensionisten. Ein Knecht. Beim Großbauern ganz in der Nähe verdingt. Mit immergrünem Gesicht im Grünenzimmer, so nennt die Pflegemutter den Raum neben der Kammer des Kindes, weil dort im Winter die Geranien lagern und die Wände des Zimmers lindgrün gestrichen sind.
Daskind jetzt auf dem roten Sofa im Wohnzimmer. Über dem Scheitel des Kindes der leidende Christus am Kreuz. Silbern leuchtend auf dunklem Holz. Das lange Silberhaar um den silbernen Kopf und einrahmend das silberne Lächeln, den silbernen Tod. Silberblut quillt aus dem silbernen Herzen, Silberherz stirbt. Stirbt immerzu. Wie kann einer, denkt Daskind, immerzu sterben. Ohne Groll. So ist das Leben des Kindes im Hause Idaho, umsorgt von Derfrau und Demmann, Pflegemutter und Pflegevater-, ein Silbertodimmerzu. Im Beisein der Silbereltern, des Silbervaters, der Silbermutter: die winken dem Sterben des Kindes zu, lachen es an und strafen es silbern, wenn nicht der Kleinefratz, zärtlich, sondern Daskind, Derfrechefratz, Dassaumädchen, Hürchendreckigerbalg Bedürfnisse äußert, die der Kleinefratz, zärtlich, nicht äußert.
Dass zum Beispiel nachts die Tür der Kammer des Kindes offenstehe, damit sich Daskind nicht so ganz alleine fühlt. Dass das Licht brenne im Korridor, bis Daskind schläft. Dass man ihm die Angst nimmt vor der Nacht und dem Immergrünen im Grünenzimmer. Dass kein Silberpfahl wachse ins kindliche Herz und keiner eindringe in jene Bereiche, die kein Grün kennen, nur kindlichen Schlaf. Dass Fritz, der Kater, sich nicht auf die Brust des Kindes legen darf, wenn es schläft und zu Tode erschrickt, wenn die Brust keinen Atem mehr hat und Fritz, der Hauskater, wie eine frevelnde Hand, eine schwere, auf der Brust des Kindes ruht.
Dass endlich Vergeltung einbräche in diese Dunkelwelt, denkt Daskind, um alle Schuld zu sühnen, die des Kindes und die der andern. Daskind will wissen, dass es schuldig ist, ein Silberleben lang. Weshalb sonst stürbe der andere, der Silberleib am dunklen Holz, seinen Silbertod immerzu.
Daskind jetzt auf dem roten Sofa im Wohnzimmer, tagsüber Nähstube, Cafe, Klatschraum. Daskind, Kindfü-ralle. Winterkind. Winterbalg. Winterkind spricht nicht. Tobt auch nicht und schreit nicht. Sitzt still auf dem roten Sofa. Starrt auf den grauen Haarknoten der Pflegemutter Frieda Kenel, geborene Ruegg. Die singt, singt Fernimsüddasschönespanien. Singt mit brüchiger Stimme das Lied von den Trauben, der Sonne und einer einsamen Liebe, die keine Erfüllung findet. Singt, den Rücken dem Kind zugekehrt, singt und denkt an den Stoff in ihren Händen, der ein Kleid für die Freudenstau werden soll. Fernimsüddasschönespanien. Denkt nicht an Daskind, hat Daskind vergessen wie alle Nachmittage zuvor, wenn Daskind auf dem Sofa saß und rot der samtene Überzug und Daskind ein Warten. Warten. Auf was denn? Vielleicht einmal anders. Ohne Angst. Einmal zuschlagen.“

Das ist die atemlos angelegte, herausgepresste und (am besten laut zu lesende) ziemlich hoffnungslose Ausgangssituation des Romans: Ein Kind ohne Herkunft, ein Heimkind, weder hübsch noch lieb und noch dazu sprachlos (gemacht), so fängt alles an. Einen Ausweg kann es nicht geben, nur ein Ende mit Schre-cken. Von solchen Kindern erfährt man entweder aus den Akten einer sozialpädagogischen Institution oder dann, wenn es in einer Statistik über jugendliche Straftäter, beziehungsweise als Angeklagte(r) in einer mediengerechten Gruselstory über kindliche Mörder(innen) auftaucht.
224 Seiten lang lässt sich Mariella Mehr Zeit, das Unglück, die Not und die Verzweiflung zu schildern in hektischen, zerstückelten Sätzen, in Satzfetzen, die nichts beschönigen und verharmlosen, die eindringlich schildern, wie kalt und heuchlerisch, wie gefühl- und erbarmungslos die dumpfe, bedrohliche Erwachsenenwelt zum „Daskind“ ist.
Mariella Mehr kennt kein Erbarmen mit dem Leser/der Leserin und schreckt nicht davor zurück, gerade den religiösen Zeichen- und Sprachkosmos in die Darstellung des namenlosen Schreckens des Kindesmissbrauches miteinzubeziehen:

„Das ist mein Fleisch, sagt der Pfarrer mit starker Stimme, und das ist mein Blut, nehmet und esset von meinem Fleisch, trinket von meinem Blut. Sagt auch der Pensionist nachts in der Kammer des Kindes. Hält Daskind in seinen Pranken gefangen. Presst mit dem schweren Leib den Leib des Kindes in die Kissen. Stösst stöhnend zu. Erstickt Daskind am Dasistmeinfleisch. Rächt sich das Lamm. Rasch überschlägt Daskind sein kurzes Leben, bricht ab vor dem letzten Stoß des Stöhnenden, hat beim Überschlagen fast das Atmen vergessen, pumpt das Herz vergiftetes Blut durch den Körper. In wil-der Wut. Rast Dasistmeinblut durch die Adern des Kindes. Liegt befriedet der Stier auf dem Kind. Unter den Augen des Lamms an der Wand.“
(S. 107)

Mariella Mehr erfindet mit Fortdauer des Romans immer neue Begriffe für Daskind: Warumkind, Sternenkind, Schlotterkind, Schlechtkind, Steinkind, Winterkind, Wolfskind, Gutkind und Sündenkind, oder Dornenkind. Die abergläubischen Dorfbewohner wollen dem Daskind den Teufel austreiben, und unaufhaltsam treibt die Geschichte auf einen erschreckenden Höhepunkt zu.
Denn selbst der Tod des Vergewaltigers, des Immergrünen, des Pensionisten Lacher (er erfriert betrunken nach einem Sturz von der Gasthausstiege),ändert nichts an der Verfolgung von Daskind. Einer tut sich besonders hervor, der Sigrist (Mesner) Jakob Gingg:

„Daskind muss weg aus dem Dorf, in ein Heim, in eine Sonderschule vielleicht. Ist krank, Daskind. Kaum ein Kind zu nennen, mit dieser kleinen Greisenfratze, dem stummen, mürrischen Mund. Keiner weiß, wo es herkommt, ist eines Tages hier aufgetaucht, an Kari Kenels Hand, hat stumm Stellung bezogen, als wäre da ein Krieg auszufechten. Und was das Dorf so alles treibt mit dem fremden Kind. Als lebte man im Mittelalter, so traktieren sie Daskind. Und wie es kämpft Daskind, dem keiner hilft, niemand im Dorf.“ (S. 182)

Bewundernswert ist die Darstellung der inneren Vorgänge, beispielhaft die Präzision der fragmentierten StummelSprache und die feine Überlegenheit, welche die Autorin zu wahren versteht. Sie geht nahe an Daskind heran, redet aus ihrem Inneren, mit einer ungeheuren Kraft der Verwandlung und Identifikation.
Der „Tages-Anzeiger“ Zürich meinte, dass die Redewendung „Namenloses Elend“ in „Daskind“ mehrfach neuen Sinn gewinnt: Namenlos und unsäglich ist das Leid der Titelfigur, namenlos und unartikuliert bleibt ihre Sprache, und namenlos entindividualisiert wird sie zur Unperson der Dorfgemeinschaft. In der Umkehrung des Kaspar-Hauser-Stoffes zeigt Mariella Mehr, wie eine nur scheinbar zivilisierte Gesellschaft ein Kind zum Wildwerden verurteilt und ausstößt.

Mariella Mehr schreibt aus der Perspektive der verstörten Seele eines sprachlosen Kindes heraus, wittert mit ihm die überall lauernde Gefahr, gibt seinen seelischen Verwüstungen Ausdruck und Sprache in verstellten, kaputten, amputierten Sätzen. Der archaisierende Sprachduktus beschreibt die instinkthaften Reflexe des Kindes, Furcht, Hass, das katzenhafte Reagieren in der Gefahr, und führt in das dumpfe Kesseltreiben aus Lebensverzweiflung.

Ein radikales Kunstwerk. Das hochdramatische und letztlich doch offene Ende soll hier nicht verraten wer-den. Ein Buch, das viel von Schuld und Angst erzählt und von der unauslotbaren Hilflosigkeit von Kindern.

Zur Autorin

Mariella Mehr, 1947 in Zürich geboren, wurde als Angehörige des Volkes der Roma selbst früh von der Mutter getrennt und wuchs in Heimen, bei Pflegeeltern, in Erziehungsanstalten auf. Mit 16 schrieb sie ihre ersten Gedichte. Seit 1975 setzt sie sich für die Belange der Roma ein. 1981 erschien „steinzeit“, ihr erster Roman, der in mehrere Sprachen übersetzt und ausgezeichnet wurde. 1995 veröffentlichte sie „Daskind“, dem unter anderem der Preis der Schweizer Schillerstiftung verliehen wurde. 1998 erschien im Verlag Nagel & Kimche, Zürich, der Roman „Brandzauber“.

(veröffentlicht in den CPB 1/99 unter der Rubrik Umgeblättert)

Helmut Loder

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