LoderNet.com / David Loder
Wir sind: Helmut Loder / Maria Loder / David Loder / Rebecca Loder / Raphael Loder
Helmut Loder - Rezensionen und Buchempfehlungen - Der Waschzettel

Peter Bichsel
Möchten Sie Mozart gewesen sein?

Das ist ein Fastenbuch. Im wahrsten Sinn des Wortes. Dünn und leicht, wenige Seiten, schnell zu lesen, aber schwergewichtig in den Aussagen. Konzentration aufs Wesentliche. Nach der Lektüre liegt es einem schwer im Magen. Und außerdem ist es die Neuauflage eines Buches, das vor 10 Jahren relativ unbeachtet herausgekommen ist. Das alles sollte man sich als Leser/in vor Augen und im Hin-terkopf (be)halten, wenn man die beiden Texte des bekannten Schweizer Schriftstellers Peter Bichsel „Möchten Sie Mozart gewesen sein?“ liest und meditiert.

Peter Bichsel sinniert, fragt, provoziert und fordert auf eine unnachahmlich federleichte Art zum Nachdenken heraus! Nicht so geradlinig, bedächtig und zuckersüß, wie wir es manchmal gern hätten. Unkonventionell und deutlich Stellung nehmend, kantig legt er seine nur scheinbar „schmale Kost“, das harte Brot seiner Fragen und Gedanken, auf den Lese-Tisch. Er nimmt Mozarts Credo-Messe und legt seine Beobachtungen über eine „erfolglose, hilflose“ Anneli dazu.

Zuallererst aber ist der titelgebende Text „Möchten Sie Mozart gewesen sein?“ eine kleine feine Lobrede auf Mozart und seine Musik, die ihm „liebgeworden ist“:

„Möchten Sie Mozart gewesen sein? Möchten Sie Janis Joplin, Jimi Hendrix gewesen sein oder Heinrich von Kleist? ... Möchten Sie Mozart gewesen sein? Das ist – ich weiß es – eine unanständige Frage. Niemand wird sie für sich beantworten können. ...(S. 9)

Ich liebe Mozarts Musik und Sie tun es auch. Aber aus der Sicht von Mozart ist Musik etwas Erfolgloses, etwas Unökonomisches, unsere Begeisterung für diese Musik ist in kein Verhältnis zu setzen zu Mozarts Leiden, und die Suche der Biographen nach seinem Mörder ist lächerlich, und unse-re Anteilnahme an seinem Leiden ist Verlogenheit. Die Prominenten haben viele Biographien, und wenn man ihre Biographien liest, dann kriegt man oft den Eindruck, dass selbst Armut, Krankheit und Leiden ein Privileg der Prominenten sind. Das Leiden der Prominenten macht immer wieder das Leiden der Namenlosen lächerlich, denn sinnvoll ist das Leben für uns offensichtlich erst dann, wenn es einen Namen bekommt. Mozarts Leben hat einen Namen bekommen.
Ich habe die Credo-Messe tagelang, wochenlang gehört, als ich versuchte, diesen Text zu schreiben. Und je mehr ich sie hörte, desto weniger wollte mir einfallen. Musik schlägt einem die Wörter aus den Händen, Musik macht sprachlos.“ (S. 11)

Im Verlauf des Nachdenkens stellt er die absolut unschuldige Anneli vor, die er dem Leser knapp, aber äußerst präzise in wenigen Sätzen eindringlich beschreibt:

„Anneli war eine einfache Frau, und eine bescheidene, die überall, wo sie war, das Gefühl hatte, sie sei zu viel, sie stehe im Wege. Sie war leicht geistig behindert, und ihr Leben bestand aus Entschuldigungen. Sie war sehr religiös erzogen worden, und sie war fromm. Sie hatte eine Neigung, darüber nachzudenken, warum sie hier ist. (Andere Leute studieren das auf der Universität und nennen es Philosophie.) Und sie las mit einer besessenen und krankhaften Leidenschaft alle Todesanzeigen und versuchte jedes Mal - auch bei völlig fremden Menschen - einen Zusammenhang mit sich selbst herzustellen. Sie hatte bei allen Todesanzeigen den Verdacht, dass sie schuld sei am Tode der Unbekannten.
Anneli wurde nie gewählt. Anneli machte keine Karriere. Sie gehörte nicht zu jenen Erfolgreichen, die nie Schuld auf sich nehmen und am Tode von niemandem verantwortlich sind. Aber Anneli war debil, invalid - das heißt ungültig, unbrauchbar. War vielleicht jener, der wirklich die Sünde der Welt wegnimmt, auch unbrauchbar? Unbrauchbar nämlich wie Anneli für unsere Erfolgsbiographien.
Anneli ist auch Mensch geworden. Auch Anneli wurde in die Armut hinein geboren und in die Kälte - das hat sie gemeinsam mit Gottes Sohn, sie hat Fleisch angenommen und ist Mensch. Aber zur Armut des Hungerns und des Frierens kam bei Anneli noch die Armut des Geistes. Anneli lebte ohne jeden Glanz, ohne Schönheit, ohne Ästhetik. Anneli war nicht zur Alkoholikerin geworden, Anneli schrie nie ein Credo, auch kein unanständiges, Anneli saß nie in Cafe's und aß Kuchen - Anneli entschuldigte sich bei allen dafür, dass sie hier ist. Sie nahm ganz naiv und unwissentlich die Schuld dieser Welt auf sich. Ein Erdbeben irgendwo auf der Welt hatte mit ihr zu tun. Sie lernte keinen Beruf, sie lernte keinen Freund kennen, sie lernte nicht schwimmen, sie nahm nie an olympischen Spielen teil. Sie wurde nicht Staatspräsidentin, nicht Generaldirektorin, nicht einmal Verantwortliche einer öffentlichen Toilette.
Wenn jemand ohne Schuld an dieser Welt gelebt hat, dann war es Anneli.“

Wie beiläufig lässt er seine Überlegungen über Erfolg, Karriere, Bescheidenheit, über das sinn-volle(?) Leben der geistig Behinderten und das Leiden der Namenlosen einfließen. Ohne Krampf und mit ü-berraschender Direktheit schreibt er dem Leser aufregende Sätze von deutlicher Klarheit ins aufge-schlagene Seelen-Stammbuch“:

„Wir aber kennen uns aus in der Politik der Lebenden und sind nicht bereit, die Schuld am Elend der Lebenden auf uns zu nehmen. Wir erleben die Politik der Lebenden als eine Show am Fernsehschirm. Wir lassen uns damit unterhalten und haben nichts damit zu tun.“
(S. 12)

Bichsel hat auch keine Scheu vor religiös tabuisierten Fragestellungen, er formuliert pointiert und ohne Rücksicht auf Verluste, bzw. Berührungsängste:

„Ich habe Mühe mit dem Wort »heilig«, und ich habe Mozart in Verdacht, dass er auch Mühe hatte damit. Keinen Teil der Messe handelt er so schnell ab, und das Sanctus gäbe doch einem Musiker Gelegenheit zum Schwelgen.
Unter allen Eigenschaften, die wir Menschen Gott in Hilflosigkeit zumessen, ist für mich die Heiligkeit die unverständlichste. Wenn ich einen Gott habe, dann will ich ihn in mir und neben mir haben, und ich will mit ihm sprechen können - und ich diskutiere mit ihm, und hie und da streiten wir.
Ich hatte schon einen Gott, als ich fünf war, und ich hatte einen Gott, als ich sieben war - und ich hatte meine Mühe mit ihm, als ich zwanzig war. Es mag der eine und einzige Gott sein, für mich wurde er immer wieder ein anderer - und nachdem es Menschen gibt, denen wir Heiligkeit zumessen, und Menschen, die für sich Heiligkeit beanspruchen -möchte ich wenigstens einen Gott haben, der außerhalb der Hierarchien steht - der nicht der Oberste ist, nicht meinem Chef gleicht, nicht einem König ähnlich ist und auch keinem Diktator. Ich sage ihm Du - wir versuchen Freunde zu sein - und ab und zu beschimpft er mich mit so üblen Worten, die nur unter Duzfreunden üblich sind.
Gott hat keine Karriere gemacht, und Heiligkeit ist mir eine allzu einfache Vorstellung von Karriere. Er ist nicht der oberste einer Hierarchie. Ich bin Protestant, ich protestiere, mein Glaube ist trotzig.
Ich möchte für mich einen Gott, der lachen kann - mit mir lachen kann, einen Gott, der weinen kann - mit mir weinen kann; seine Heiligkeit und seine Herrlichkeit trennt ihn von mir. Dass er Mensch geworden ist - das lässt mich ab und zu mit ihm ein Bier oder ein Glas Wein trinken - aus demselben Glas.
(S. 28)

Und wenn ich mit meinem Gott rede, dann rede ich als Mensch mit einem Menschgewordenen. Ich sage es ungern - es ist missverständlich - nur wenn ich wirklich ganz mit mir rede, nur mit mir allein, dann rede ich mit Gott. Ich sage ihm Du, und er heißt nicht Sankt Gott - er heißt auch nicht Sankt Jesus.
Hie und da besucht er mich - er ist ein angenehmer Gast. Er hat viel Zeit, und ich erzähle ihm, wie viel ich zu tun hätte, und er lächelt. Und er erzählt mir von Anneli, die nichts zu tun hatte. Ich freue mich, wenn er kommt. Es wird immer seltener. Mir fehlt die Zeit.“

Und ein wenig später schreibt er:

„Das Leben misslingt uns allen. Wenn er kommen würde, der Hochgelobte, im Namen des Herrn, um mit uns ein Glas zu trinken, wir alle hätten vorerst unsere Terminkalender zu konsultieren und zu sagen: Heute leider nicht, die nächsten zwei Wochen überhaupt nicht - und er hätte das zu verstehen, weil wir doch alle fleißig sind, und Fleiß doch etwas Moralisches ist.“
(S. 33)

„Ich bin nicht fromm - mir fehlt die Zeit dazu. Anneli hatte die Zeit, aber Anneli hatte Angst, hatte ihr ganzes Leben in Angst verbracht, in Angst vor dem Nachbarn, in Angst vor dem Vater, in Angst vor dem Lehrer, in Angst vor Gott, denn es war gottesfürchtig geworden - ein schreckliches Wort. Anneli war wirklich fromm, und sie hat ein Leben still und anständig hinter sich gebracht - und hat nie und niemanden gestört - Agnus Dei, ein Lamm Gottes. Sie wäre zu bewundern, wenn sie das frei gewählt hätte, aber es war nicht Gott, der ihr Furcht und Zittern beigebracht hatte, sondern nur die Menschen, und darunter auch fromme Menschen.
Es gäbe Gründe genug, mit Annelis Gott zu hadern. Es gäbe Gründe genug, alle, alle von ihren Sockeln zu reißen - auch Gott.“
(S. 35)

„Predigt für die andern – Eine Rede für Fernsehprediger“, nennt Bichsel den zweiten Text. In einer Art Monolog setzt er sich mit Redefreiheit und Verantwortung, mit der Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und mit der Kirche auseinander:

„Was ich dieser Kirche von Herzen gönne, ist, dass sie ihren Gründer nie loskriegen wird. Sie kann so konservativ werden, wie sie will, sie wird ihn mitschleppen müssen, und immer wieder werden sich Weltverbesserer und Revolutionäre und Unterdrückte und Leidende auf ihn beziehen. Da werden sie predigen können, was sie wollen, sie werden das nicht verhindern können. Und da kann ein Prediger so konservativ sein, wie er will - seine Mühe ist vergebliche Mühe. Christus ist so oder so das andere.“
(S. 49)

Am Anfang steht eine harmlos klingende Frage: „Möchten Sie Mozart gewesen sein?“ Herausgekommen sind bohrende Fragen, höflich wie auf einem Tablett serviert. Am Schluss ruft er die – imaginären – „Fernsehprediger“/Priester/alle engagierten Laien und Gläubigen zur Hoffnung, zum Weitermachen, zum Weiterglauben auf: „Das wollen sie, einen einfacheren Gott wollen sie. Der Ihre, wenn es ein christlicher sein sollte, ist ihnen zu kompliziert. Was Sie auch tun, wenn Sie es tun, Sie werden stören – das ist ein Trost und eine Hoffnung, ein Hoffnung von wenigen, wie mir scheint – predigen Sie diesen wenigen.“
(S. 58)

Ein Buch zum Immer-wieder-lesen: Ehrlich, „möchtest Du Mozart gewesen sein?“

Zum Autor

Peter Bichsel, geboren 1935 in Luzern, besuchte das Lehrerseminar in Solothurn, war von 1955 bis 1968 Primarlehrer, danach Publizist, Dozent und Berater eines sozialdemokratischen Bundesrats. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Solothurn. Mit seinem Debüt, dem Erzählband „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen“ profilierte sich Peter Bichsel 1964 als einer der wichtigsten Vertreter der deutschsprachigen Kurzgeschichte. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen von Kurzprosa und Essays (u. a. die berühmten „Kindergeschichten“, 1969, „Zur Stadt Paris“, 1993, und die bissigen Kolumnen „Gegen den Briefträger konnte man nichts machen“, 1990.) Sein letzter Roman trug den Titel „Cherubin Hammer und Cherubin Hammer“.

(veröffentlicht in den CPB 1/2000 unter der Rubrik Umgeblättert)

Helmut Loder

« Zurück zur WaschZettel-Übersicht

Copyright © 2003-2006 LoderNet.com. This work is licensed under a Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 License.
Valid XHTML.

disillusiondesign. aesthetics and fine screen design.

« Zurück zur WaschZettel-Übersicht

Feedback
Schreib uns!

Inhaltliche Anregungen, Verbesserungsvorschläge und Lob (aber auch Kritik) schickst du an feedback[at]lodernet.com. Wir freuen uns über Rückmeldungen jedweder Art!